Liedpredigt zum Karfreitag

„O Haupt voll Blut und Wunden“
Liedpredigt (EG 85) zum Karfreitag

Gnade sei mit Euch und Friede von dem der da war, der da ist und der da kommt.

Liebe Gemeinde,
was können wir tun, um Karfreitag recht zu begehen und des Sterbens von Jesus Christus zu gedenken? - Wir gehen in die Kirche. Wir sind es gewohnt, im Gottesdienst eine Predigt über einen Bibeltext zu hören. Diesmal wollen wir es anders halten. Heute lädt uns der Dichter und Theologe Paul Gerhardt ein, zu einer Betrachtung seines bekanntesten Passionsliedes: O Haupt voll Blut und Wunden. Machen wir uns auf den Weg und betrachten uns dieses Werk genauer. Lassen Sie uns gemeinsam die ersten drei Strophen des Liedes miteinander singen.

Singen: EG 85, 1-3

Liebe Gemeinde,
was, wenn wir jetzt auf dem Berg Golgatha stünden, nicht weit vom Kreuz Jesu, so dass wir ihn direkt anschauen könnten? Wie wäre uns dabei zumute? Was würden wir empfinden?
Das Lied: “O Haupt voll Blut und Wunden“ von Paul Gerhardt, versetzt uns genau an diesen Ort: gegenüber vom gekreuzigten Jesus. Es bewegt uns dazu, ihm ins Angesicht zu schauen.
Wie schwer dieser Anblick auszuhalten ist! Einen Menschen, der großen Schmerz leidet, einen Gequälten, einen Gefolterten anzuschauen. Nicht den Blick abzuwenden, dass fällt uns schwer. Umso unangenehmer, wenn dieser Mensch uns nahe steht und vertraut ist. Und Jesus?

Es gibt viele Kunstwerke, auf denen wir den Gekreuzigten dargestellt sehen. Doch das sind Bilder, die uns meist nicht mehr schockieren. Der Anblick geschundener Menschen ist in unserem Medienzeitalter erschreckend „normal“ geworden. Wir haben uns daran gewöhnt. Dass Jesus am Kreuz gequält wird, dass er Folter erleidet, wissen wir zwar. Aber wir wollen es nicht realistisch vor Augen haben. Etwas in uns sträubt sich dagegen.

Und dennoch, das Lied: “O Haupt voll Blut und Wunden“ bewegt uns dazu, Jesus am Kreuz anzuschauen, sein Haupt anzuschauen. Der Liedtexter Paul Gerhardt folgt damit ganz bewusst einer alten christlichen Tradition, die zu seiner Zeit im 17. Jahrhundert, noch weit verbreitet war. Sich die Qualen des am Kreuz leidenden realistisch auszumalen, um dann im Gebet mit ihm eins zu werden.

Was geschieht nun mit mir und meinen Gedanken, wenn ich mir Jesus so anschaue, wie es das Lied mir nahe legt? Das Haupt ist mehr als andere Glieder für die Person charakteristisch. Das Gesicht ist eigentlich der weitaus eindrucksvollste und markantes Teil des Körpers. Ich sehe vor mir den Menschen, der ehrwürdig ist wie kein anderer: blutüberströmt, dornengekrönt, entstellt, verwundet, geschlagen und bespuckt. Im Gesicht ist der Mensch am meisten Person. Doch gerade das Gesicht ist am meisten misshandelt.

Das Lied lädt mich ein, diesem misshandelten Gesicht Ehre zu erweisen: „Gegrüßet seist du mir!“ heißt es weiter. Ich soll dieses entstellte, todesblasse Gesicht mit meinem Gruß ehren. Ich soll das Gegenteil dessen tun, was die römischen Soldaten getan haben, die den Gekreuzigten verspotteten und ihm eine Dornenkrone aufsetzten, und dabei spöttisch ausriefen: „ Gegrüßet seist du, Judenkönig“, „Ehre dem Judenkönig“.

Aber mit der Ehre ist es so eine Sache. Sie fängt nicht erst mit dem Grüßen an – was man wie die Römer auch mit Spott und Verachtung tun kann! - , sondern damit, ob ich dem andern ins Angesicht schaue oder mit gesenktem Kopf an ihm vorübergehe. Den anderen würdigen heißt: ihm von Angesicht zu Angesicht begegnen. Ich schaue ihm in die Augen und werde von seinen Augen angeschaut. Dann erkenne ich: der andere ist anders als ich - und zugleich doch ein Mensch wie ich selbst. Darum ziehen Henker und Folterknechte sich eine Maske über ihr Gesicht oder verhüllen das Gesicht ihres Opfers, das sie misshandeln. Sie wollen selber nicht erkannt werden und vermeiden es, dem Geschundenen direkt ins Gesicht zu schauen, um nicht zu sehen, dass der andere ein Mensch ist wie sie selber.

Wenn ich das Angesicht des gekreuzigten Jesus so anschaue, wie es das Lied mir nahe legt, höre ich auf, distanzierter Beobachter zu sein. Ich fange an, ihn teilnehmend und mitfühlend anzuschauen. Dieser misshandelte Mensch, sein Angesicht, stellt mir die Frage, der ich nicht ausweichen kann. Das Lied lässt mich ihm die Frage stellen: „Wer hat dein Augenlicht, dem sonst kein Licht nicht gleichet, so schändlich zugericht? Wer hat dir das angetan?“
Die Antwort gibt uns das Lied selbst. Wir singen die Strophen 4 und 5.

Singen: EG 85, 4+5

Was wir da gesungen haben, würde uns kaum über die Lippen gehen, wenn wir es einzeln sprechen müssten. Da würde sich sofort Widerspruch regen: „Wieso soll ich am Leiden Jesu schuld sein? Ich kann doch nichts dafür! Ich habe nichts getan. Was Jesus am Kreuz erleiden musste, haben andere getan“. Wir folgen damit der allgemeinen menschlichen Neigung, jede Schuld von sich abzuwälzen.

Paul Gerhardt hat anscheinend völlig vergessen, wer die wirklich Schuldigen waren: Judas, die Hohenpriester und Schriftgelehrten, Pilatus, die Henkersknechte. Sie haben das edle Angesicht Christi so schändlich zugerichtet. Sie haben ihm das angetan: Schimpf statt Ehre, Spott statt Scheu, Todesblässe statt Licht.

Doch schauen wir uns nur den Gekreuzigten an. Er zeigt nicht hierhin oder dorthin, auf denen oder jenen, kann es gar nicht, festgenagelt wie er ist, blickt uns nur unentwegt mit seinem Gesicht an, bis wir uns die Frage der vierten Strophe selbst beantworten:

„Nun, was du, Herr erduldet, ist alles meine Last.
Ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat.
Gib mir, o mein Erbarmer den Anblick deiner Gnad.“

In diesem Augenblick gibt es nur dieses Ich und Du. Wenn der andere mich immerfort anschaut, wenn ich meinen Blick nicht von ihm abwenden kann, fühle ich mich verantwortlich gemacht für den anderen, angeklagt von seinem Angesicht. Ich kann nicht anders, als mich schuldig bekennen und belastet durch das, was in diesem Gesicht angerichtet ist.
Der Betrachter, der seine Schuld eingesteht, steht hilflos da. Er fühlt sich dem Blick seines Richters ausgesetzt und sucht den Blick des Erlösers.

Wie gerne würde ich und wie gerne würde jeder von uns sagen:
„Mit dem, was dieser Mensch am Kreuz da erleidet, habe ich eigentlich nichts zu tun!“ Aber das ist eine Ausflucht. Wir haben alle mit dem Leid zu tun, das andere erleiden. Der Anblick eines gequälten Menschen macht uns verantwortlich, jedes geschundene Haupt ist eine stumme Anklage an uns.

Das Furchtbare, dem ich mich nicht entziehen kann, ist ja, dass hier der Herr der Welt, das hier Gott selbst leidet. Wenn ich erkenne, vor wem ich stehe, kann ich Ihn nur um seine Gnade bitten. Dann bitte ich um sein Erbarmen und kann mich, wie das Lied mir vorsagt, darauf berufen, wie viel Gutes Er mir schon getan hat. Erst dort, wo einer derart vom Anblick des leidenden Christus getroffen wird, dass er mit-leidend seine eigene Schuld erkennt, geht ihm auf, wie sehr er immer schon von der Güte Gottes gelebt hat.

Das Lied bewegt dazu, vor dem leidenden Christus mich selbst zu erkennen. Und in demselben Augenblick erkenne ich, dass Gott, der sich so von uns – ja, von uns! – misshandeln lässt, bis zum Äußersten, bis zum Tod zu uns hält.
Obwohl hier vom Sterben gesprochen wird, haben diese Strophen des Liedes einen warmen und hellen Klang. Es fehlt alles Selbstquälerische und Düstere, das viele heute mit dem Karfreitag verbinden. Denn Paul Gerhard betont die Freude. Die Freude, im Leiden Jesu sich selbst, und in ihm das Leben zu finden. Er bewegt mich dazu, in Jesus mein Heil und mein Leben zu erkennen. Es ist die Aussicht, dass ich ihn ihm mein Leben finde, die mich dazu bewegen kann, Jesus nachzufolgen. In Jesus einen Freund fürs Leben finden.

Mit diesem Freund, sagt das Lied mir vor, will ich bis zu meinem eigenen Tod und darüber hinaus verbunden sein. Auf diese Weise wird er mir in der Todesstunde zum letzten Halt.
Was heute völlig vergessen wird, ist die Frage, wie man sich, auf das eigene Sterben vorbereitet. Das Lied weicht dieser Frage nicht aus. Es beschönigt den Tod auch nicht, sondern spricht offen von Schmerz und Bangen, von Angst. Es ruft jedoch Jesus herbei.
Er soll den Sterbenden aus seinen Ängsten herausreißen. In der äußersten Bedrohung und Anfechtung kann nur der helfen, der Angst und Todesnot selbst erlitten und besiegt hat. Jesus kann dem Sterbenden beistehen, er kann ihm Schild und Trost sein, weil er ihm im Leiden und Sterben vorausgegangen ist.

Im späten Mittelalter zu Paul Gerhardts Zeiten, als dieses Lied entstand, war es noch üblich, dem Sterbenden ein Kruzifix vor Augen zu halten, um ihm Angesichts des Todes den Halt, den Sterbetrost zu geben. Paul Gerhardt spielt auf diesen Brauch an. Christus in seiner Kreuzesnot anschauen, das heißt für ihn, den vor Augen zu haben, der den Schrecken des Todes ausgehalten hat. Dieser Anblick gab den Menschen Trost und Kraft auf ihrem letzten Lebensweg. Wo kein Mensch mehr mit uns gehen kann, da lässt er uns nicht im Stich, begleitet uns.

Wir wissen nicht, wie wir selber sterben werden. Aber das Lied bereitet uns vor auf ein getrostes Sterben: kein Beziehungsabbruch, kein Fallen ins Nichts steht uns bevor. Es ist vielmehr ein Übergang, ein sich ganz in Christus hinein geben.

Mich sprechen gerade die beiden letzten Strophen des Liedes in ihrer Gefühlswärme und in ihrem innigen, persönlichem Ton an. Sie stärken in uns das Vertrauen, dass wir auch dann, wenn wir den Tod erleiden müssen, bei Christus Halt finden. Dazu gehört aber, dass wir dem Anblick seines verletzten, geschändeten Gesichts nicht ausweichen. Das Lied: „O Haupt voll Blut und Wunden“, von dem wir nun zum Ende der Predigt noch die letzten beiden Strophen singen möchten, richtet unseren Blick auf das Angesicht Christi. Es will uns zur Anteilnahme an seiner Passion bewegen. Nur der teilnehmende Blick auf den gequälten Mensch führt zu echter Erkenntnis, die uns selbst läutert.
Und so gehen wir in diesen Tag, getragen von der Zuversicht die uns die Worte aus Psalm 69 mit auf den Weg geben:
„Erhöre mich, Herr, denn deine Güte ist tröstlich, wende dich zu mir nach deiner großen Barmherzigkeit. Und verbirg dein Angesicht nicht vor mir, denn in deinem Angesichte finden wir Erlösung!“
Amen.

Und der Friede Gottes, welcher Höher ist als all unser Verstehen, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserm Herrn. Amen.

Singen: EG 85, 9+10

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